Die genaue Zugbahn von Gewittern ist in der Regel nicht leicht vorherzusagen, ziehen sie doch teils sehr eigenwillig durch die Lande. Einer der Gründe, wieso die Verlagerung von Gewittern so schwer abzuschätzen ist, soll im Folgenden näher erläutert werden.
In der Vorhersage- und Beratungszentrale erreichen uns besonders während der Sommerzeit wiederholt Anfragen von Kunden, die entweder beklagen, dass die Gewitter immer wieder an ihrem jeweiligen Standort vorbeiziehen oder aber, dass ein Gewitter auf einer vollkommen atypischen Zugbahn mit all seinen Begleiterscheinungen über ihren Standort hereingebrochen ist. Diese Fragen haben sicherlich schon häufig für Diskussionen gesorgt, denn wer kennt sie nicht, die bevorzugten Gewitterzugbahnen aus seiner Heimat. Mal ziehen die Gewitter immer wieder weit entfernt am Horizont entlang und werden zum Beispiel durch orografische Einflüsse wie ein Gebirge am Beobachtungsort vorbeigelenkt. Doch dann gibt es auch die Tage, wo alles anders läuft. Dann werden bisher geschützte Regionen auf einmal von einem Unwetter getroffen und nicht selten zieht solch ein Gewitter aus einer für die Region eher ungewöhnlichen Richtung auf. Für all diese Beobachtungen gibt es sicherlich unzählige (lokale) Gründe, die hier gar nicht alle erwähnt werden können. In der Folge soll aber ein Beispiel gezeigt werden, wieso es zu ungewöhnlichen Zugbahnen eines Gewitters kommen kann. Dazu wird ein Ereignis vom 19. Mai 2017 betrachtet, das sich vor den Toren Münchens abgespielt hat.
Stellen Sie sich vor, sie wohnen in München und schauen um 14 Uhr kurz vor einem späten Mittagsschlaf zum Beispiel auf das Radar der Warnwetter-App des Deutschen Wetterdienstes. Sie sehen, wie sich südöstlich der Stadt ein kräftiges Gewitter entwickelt hat, das aber im Radarloop gut erkennbar nach Nord bis Nordost und somit an München vorbeizieht. Dabei bedeutet die rote oder blaue Farbe im Radar, dass es sich um ein kräftiges Gewitter handelt und in diesen Bereichen mit heftigem Regen oder gar mit Hagel gerechnet werden muss. Sie sind nun beruhigt, legen sich hin, nur um eine knappe Stunde später von lautem Donnerschlag geweckt zu werden. Sie schauen wieder auf das Radar und erkennen, dass sich abgesehen von dem einen Gewitter keine neue Gewitterzelle südlich von München entwickelt hat, die auf die Stadt hätte zuziehen können. Doch was war geschehen?
Gewitter entwickeln sich je nach den entsprechenden Zutaten mit unterschiedlichen Intensitäten. Eine der Zutaten für Gewitter ist dabei eine feuchte und warme Luftmasse, die sich mit zunehmender Höhe rasch abkühlt. Dieser Zustand der Troposphäre wird in der Meteorologie als "labil" bezeichnet. Das bedeutet, dass ein Luftpaket sehr schnell sehr hoch aufsteigen kann und sich die Luft dabei rasch abkühlt. Durch Kondensation entstehen Regen- und Wolkentröpfchen und letztendlich eine hochreichende Gewitterwolke. Eine weitere Zutat ist eine hohe Windscherung. Dabei nimmt der Wind mit der Höhe deutlich zu und ändert auch seine Richtung. Am 19. Mai nahm der Wind von 10 km/h in rund 1,5 km über Grund auf über 90 km/h in 6 km über Grund zu. Das ist eine starke Windscherung. Der kräftige Höhenwind verfrachtet den gebildeten Niederschlag, so dass die regengekühlte Luft abseits vom Gewitter zu Boden fällt. Das erlaubt dem Gewitter weiter feuchte und warme Luftmassen einzubeziehen und das Resultat ist ein sehr langlebiges Gewitter, wie am 19. Mai dieses Jahres.
Wenn die Zutaten stimmen, sich also viel Labilität und hohe Windscherung überlappen, können sich sogenannte "Superzellen" bilden. Das sind Gewitter, die stark rotieren und mit den schlimmsten Begleiterscheinungen wie Großhagel, schweren Sturmböen und/oder heftigen Starkregen einhergehen. Superzellen sind sehr dynamische Gebilde, deren Entstehung, aber auch Entwicklung ein hochkomplexer Prozess sind. Die einen Superzellen tendieren im Verlauf ihres Lebens immer weiter nach "rechts" auszuscheren, während andere Superzellen sich in eine links ausscherende und eine rechts ausscherende Gewitterzelle teilen.
Letzteres ereignete sich am 19. Mai (siehe a)). Das Gewitter südöstlich von München entwickelte sich in einer Umgebung, die eine in Zugrichtung links und rechts ausscherende Zelle förderte. Dabei traf das links ausscherende Gewitter gegen 14:45 Uhr den Osten Münchens und überquerte die Stadt mit Hagel von örtlich bis zu 3 cm Durchmesser. Im beigefügten Bild wurden die Gewitterzellen alle 15 Minuten über eine Stunde hinweg übereinandergelegt. In b) ist die Verlagerung der beiden Gewitter über mehrere Stunden hinweg zu erkennen. Die links ausscherende Zelle zieht nach Nordwest und über München hinweg, die andere nach Nordost. Ein Gewitteraufzug aus Südost ist für München nicht alltäglich, kommen die meisten Gewitter doch eher aus dem westlichen Sektor.
Es ist nicht selten der Fall, dass Gewitter, die aus einer eher ungewöhnlichen Richtung aufziehen auch außergewöhnlich kräftige Begleiterscheinungen hervorrufen, da sie durch Prozesse getrieben werden (wie hier die Zellteilung), die bei sehr starken und langlebigen Gewittern beobachtet werden.
Dipl.-Met. Helge Tuschy
Deutscher Wetterdienst Vorhersage- und Beratungszentrale Offenbach, den 20.06.2017